Aus meinem vorletzten Buch:
Sindbad der Seefahrer
Sein
erste Reise tritt Sindbad unfreiwillig an. Er hat nicht nur das ererbte
Vermögen durchgebracht, sondern auch noch Schulden gemacht, die er nicht
begleichen kann. Also wird er als Sklave auf ein Schiff verkauft. Er kann sich
freikaufen und kehrt als sein eigener Herr nach Bagdad zurück.
Bald
darauf flieht er wieder aus Bagdad und heuert auf einem Segler an. Er hat Glück.
Der Kapitän erkennt seine Fähigkeiten und macht ihn bald zum zweitwichtigsten
Mann an Bord. SIndbads Zukunftsaussichten sind bestens - bis sie in diesem Hafen
festmachen.
Sindbads
zweite Reise: Die zwei Mütter
Zusammen mit Weng, dem
ersten Matrosen, zog ich derweil durch die Hafenstadt. Es gab so viel Neues und
Wunderbares zu sehen. Weng hielt mich an einem kleinen vernachlässigten Laden
zurück, über dessen Eingang ein Schild mit einer blau gefärbten und weit
gespreizten Hand hing.
„Na, Lust auf dein
Schicksal?“
„Warum nicht?“
Und so betraten wir den
Laden der Handleserin. Sagte ich Laden? Ein halbdunkler Raum mit einem
niedrigen Tisch in der Mitte. Davor und dahinter ein paar abgewetzte
fadenscheinige Teppiche, die offensichtlich selbst die Mäuse verschmähten, so
dünn waren sie. An den Wänden war die Farbe abgeblättert; Löcher zeigten, wo
der Lehmputz herausgefallen war. Der Vorhang zu dem Raum dahinter war ein
farbloser Lumpen. Alles in diesem Raum schien vernachlässigt, ungepflegt. Ich
wollte mich umdrehen und hinausgehen. Hätte ich es nur getan.
Weng hielt mich zurück.
„Nicht kneifen, mein Junge.
Da, da kommt sie.“
Eine knorrige Hand schob den
Vorhang beiseite. Eine alte, schwarz gekleidete Frau, das Gesicht voller
Runzeln sah uns aus wässrigen Augen an. Eine alte Vettel, ging es mir durch den
Kopf. Bei ihr würde ich nicht das kleinste Geldstück lassen.
Weng störte das alles nicht.
Er liess sich von ihr die Karten legen. Sie sagte ihm eine glückliche Heimkehr
voraus; warnte ihn aber auch vor grossem Unheil zuhause. Er zahlte; wir wandten
uns zum Gehen.
„Und der junge Herr? Will er
nicht seine Zukunft wissen?“ krächzte die Alte. „Oder vielleicht braucht er
einen Liebestrank, um sich seine Auserkorene willends zu machen? Nein?“
Mich schüttelte es allein
bei dem Gedanken, dieser grässlichen Alten gegenüber zu sitzen. Ich sah zu Boden.
„Nicht jetzt,“ murmelte ich
und floh aus dem Laden.
Am nächsten Tag gingen mir
die Alte und ihre Karten immer wieder durch den Kopf. Sie hatte einfach die
Karten in eine bestimmte Reihenfolge gelegt und dann Weng auf den Kopf
zugesagt, was ihn erwarten würde. Wenn ich dieses Wissen hätte, könnte ich
damit Berater aller Könige dieser Welt werden. Besser noch: Alle Könige dieser
Welt kämen zu mir gepilgert wie zu einer Wallfahrtsstätte. Sie würden mir
staunend lauschen, um mich danach mit den ausgesuchtesten Kostbarkeiten ihrer
Schatzkammern zu überhäufen. Ich wäre der wichtigste Mann meiner Zeit…
Ich musste zurück zu dieser
Alten. Ich musste sie dazu bringen, mir ihr Geheimnis zu verraten, egal wie.
Sie schien nicht überrascht
zu sein.
„Ah, der junge Herr ist
zurückgekehrt. Seid ihr jetzt bereit, euer Schicksal zu erfahren?“
„Mich interessiert nicht
mein Schicksal. Das mag werden wie es will. Ich will wissen, wie ihr das mit
den Karten macht. Zeigts mir!“
„Ah, der junge Herr ist
wissbegierig?“Ihre Stimme verriet mir, dass sie ihren eigenen Worten nicht ganz
glaubte. „Und was seid ihr bereit, dafür zu geben, eh?“
Daran hatte ich noch nicht
gedacht. Ein paar Goldmünzen?
Sie schüttelte den Kopf, der
lose auf ihren dürren Hals aufgesteckt schien.
„Das ist keine Sache von ein
paar Goldmünzen, junger Herr. Dient mir drei Jahre, und ihr bekommt alles von
mir.“
Drei Jahre? Ihr dienen?
Dieser Hexe? Mich schüttelte es. Und dennoch: Danach wäre ich der mächtigste
Berater eines jeden Königs; jemand, der Weltreiche dirigieren konnte. Die
Schätze dieser Erde erwarteten mich …
Ich nahm ihre Bedingungen
an. Ich streckte ihr meine Hand entgegen, um das Geschäft zu bekräftigen.
„Nein,“ kicherte sie, „so
machen wir das hier nicht. Hier trinken wir auf den Vertrag. Setzt euch.“
Kurz danach kam sie mit
einem silbernen Tablett zurück. Darauf eine wunderschöne gläserne Karaffe und
zwei fein geschliffene Gläser. Ich war erstaunt, solchen Reichtum in ihrer
ärmlichen Hütte zu finden. Sie füllte die Gläser mit einer dunklen Flüssigkeit,
die Wein sein mochte. Wir tranken auf unsere Vereinbarung. Noch im Trinken sah
ich, dass sie ihr Glas nur in den Händen hielt. Sie grinste.
Dann krächzte sie eine
Frage, die ich nicht erwartet hatte:
„Wer bist du?“
Was sollte diese unsinnige
Frage? Mein Name war … mein Name … und ich bemerkte, wie sich etwas, das ich
eigentlich wissen sollte, mehr und mehr in mir zurückzog. Ich erinnerte mich an
keinen Namen. Ich starrte sie mit grossen Augen an.
„Du heisst Senne. Hörst du?“
„Ich heisse Senne,“ erwiderte
ich ungläubig.
„Du wohnst hier.“
„Ich wohne hier.“ In meinem
Kopf war nichts mehr ausser dem Klang ihrer Stimme. Keine andere Erinnerung mehr.
Nichts. Ich wohne hier. Ich heisse Senne.
„Komm mit.“
Sie führte mich in den
dunklen Raum hinter ihrem Laden. An der linken Wand hing ein grosser hölzerner
Schrank. Durch seine vergitterten Türen konnte ich allerlei Fläschchen. Phiolen
und Behälter sehen. Sie bemerkte meinen Blick. „Da ist nichts,“ sagte sie. „Da
ist kein Schrank. Die Wand ist leer.“ Da verschwand der Schrank vor meinen
Augen. Und mit ihm schwand die Erinnerung, dass ich ihn jemals gesehen hatte.
Die Wand war jetzt leer, so leer wie der ganze Raum. „Hier schläfst du.“ Eine
alte Holztür führte nach draussen, in einen schmalen Gang zwischen zwei haushohen
Lehmwänden. Ich ging, ohne zu wissen, was ich tat. Dann war da ein kleiner
vernachlässigter Garten. Alles war überwuchert von einer einzigen, grünblauen
Pflanze. Ich kannte sie nicht. Natürlich nicht. Ich wusste nichts. Wir
gelangten an die Rückseite eines grossen Hauses.
„Hier wohne ich. Wenn ich
dich brauche, rufe ich dich. Du bleibst hier, zwischen den beiden Häusern,
verstehst du? Den Laden und dieses Haus betrittst du nur, wenn ich es dir
sage.“
Damit liess sie mich allein.
Ich stand in dem verwilderten Garten und schaute auf das Haus, in dem sie
verschwunden war. Später ging ich den Gang zurück in den dunklen Raum. Ich
legte mich hin und schlief.
Der dunkle Raum, der
verwinkelte Gang zwischen den Häuserwänden, der verwilderte Garten. Der verwinkelte
Gang zwischen den Häuserwänden, der dunkle Raum. Schlafen. Tag für Tag.
Als ich aufwachte, war es
Abend. Mein Körper schmerzte. Entsetzt bemerkte ich, wie abgemagert ich war. Ich
hatte Mühe aufzustehen. Alles drehte sich um mich. Es war fast wie auf hoher
See, bei einem dieser unzähligen Stürme. Hohe See? Kapitän Ali ben Ali? Was für
ein Name war das? Ich sah Weng, wie er sich von einer Alten die Karten lesen
liess. In meinem Kopf drängten sich ausgelassen Gedanken und Bilder wie bei
einer Hochzeitsfeier. Wo war ich? Wie hiess ich? Senne. Nein, nein, das klang
so fremd. Sindbad. Ja, ich war Sindbad. Dann war wieder alles da: Meine Geschichte,
die mich hierher, hinter diesen seltsamen Laden der Kartenleserin gebracht hatte.
Wo war sie? Wie lange war ich schon hier? Mein Schiff wartete auf mich. Ich
musste unbedingt zum Hafen.
Schwerfällig suchte ich den
Durchgang zum Laden, den mit dem farblosen Lumpen. Ich fand ihn nicht. Der
dunkle Raum meines Schlafzimmer hatte nur eine Tür, die führte nach draussen in
den Gang zwischen den Häuserwänden, zu dem verwilderten Garten, vor das Haus,
wo sie wohnte. Da stand ich. Wenn ich zurück zum Schiff wollte, musste ich
durch dieses Haus. Mir schauderte. Alles in mir sträubte sich, dieses Haus zu
betreten. Niemals würde ich meinen Fuss über diese Schwelle setzen. Die
Häuserwände, die den Garten und den Gang umgaben, waren zu hoch, als dass ich
sie hätte erklettern können. Es gab weder Nischen noch Fenster in ihnen. Ich
musste zurück zu diesem verfluchten Haus.
Der verwilderte Garten, dh,
diese grünblaue Pflanze, die hier alles überwuchert hatte, verströmte einen
eklig süssen Geruch, der mir bekannt vorkam.
Warum war ich aufgewacht?
Wieso konnte ich mich wieder an mein voriges Leben erinnern?
Da öffnete sich die Türe des
Hauses und eine hoch gewachsene Frau mit wild wallendem roten Haar trat heraus.
Ich kannte sie nicht. Ihr Gesicht war tief zerfurcht; sie musste schon ziemlich
alt sein, trotz ihres vollen Haares.
„Da bist du ja, Senne.“ Sie
war betrunken. Konnte sich kaum auf den Beinen halten. „Steh nicht so dumm
herum. Hilf deiner Herrin nach oben ins Schlafzimmer. Nun mach schon!“
Ich wagte nicht, ihr ins
Gesicht zu sehen. Mit gesenktem Kopf trottete ich zu ihr hin. Sie legte einen
Arm um meine Schulter.
„Bei Allah, bist du dünn
geworden,“ murmelte sie. „Höchste Zeit, dass ich mir einen Neuen hole.“ Ich
stolperte mit ihr ins Innere des Hauses. Ich hätte nicht sagen können, wo ihr
Schlafzimmer war; doch schien sich mein Körper in diesem Haus auszukennen.
Keuchend schleppten wir uns die steile Treppe hoch, in einen Raum, der eines
Sultans würdig gewesen wäre: mit Stoff bespannte Wände, kostbare Leuchter,
teure Schalen mit duftenden Essenzen, überall kostbare Teppiche. In der Mitte
ihr Lager, ein Nest aus tausend Kissen und leuchtenden Stoffen.
„Zieh mich aus,“ lallte sie.
Was schwierig war, weil ich einerseits ihren abgemagerten Körper halten und
gleichzeitig ihre Kleidung lösen sollte. Unter ihrer vornehmen Kleidung kam ein
Körper zutage, den der meinige zu kennen schien. Er war alt, uralt, steckte in
einer dunkelledrigen Haut, die Brüste verrunzelte Schläuche.
„Das Haar, Dummkopf!“ Das
Haar? Sie griff mit ihren knochigen Fingern hinein, zog. Sie wollte sich die
Haare ausraufen?
„Nun hilf mir schon mit
dieser verdammten Perücke, Senne!“ Jetzt verstand ich. Ich zog ihr die rote
Haarpracht vom Kopf.
Sie kreischte vor Schmerz.
„Langsam, du Idiot. Willst du mich umbringen?“
Jetzt erkannte ich die Frau,
die da neben mir stand. Es war die Hexe aus dem Laden, die Weng die Karten gelegt
hatte! Voller Entsetzen bemerkte ich allerdings auch, dass mein Körper diese
Vettel wiedererkannte. Unter dem Fetzen meines Lendentuches regte sich eine alt
bekannte Leidenschaft. Sollte ich tatsächlich mit dieser Alten…?
Sie tätschelte mich. „Nicht
jetzt, Senne, nicht jetzt. Der Abend bei der Sultanin war viel zu lang und
anstrengend. Hätte nicht soviel trinken sollen. Hätte viel früher zurückkehren
sollen. Du brauchst dringend deinen Trank.“ Sie tätschelte meine eingefallene
Wange. „Geh runter in den Garten, Senne. Pflück drei Blätter von dem grünblauen
Kraut dort, gib sie in einen Topf mit heissem Wasser und trink davon. Hast du
gehört Senne? Ich befehle es dir!“
„Ja, Herrin,“ murmelte ich
aus lauter Gewohnheit.